05.10.2007
Mit den Händen und Ohren sehen
ARTIKEL VOM 05. OKTOBER 2007
EINBLICK / UNTERRICHTSSTUNDE DER ANDEREN ART AN DER UHLANDSCHULE IN LUDWIGSBURG
Jugendliche lernen Alltag blinder Menschen kennen - Verständnis geweckt
Durchschnittlich alle fünf Sekunden erblindet weltweit ein Mensch, jede Minute sogar ein Kind. Dass sich dadurch das Leben von einem Tag auf den anderen völlig ändert, erlebten 19 Schüler der Ludwigsburger Uhlandschule am vergangenen Dienstag hautnah.
Unsicher blickt Enes um sich. Der sonst so lebhafte Junge wagt kaum einen Schritt zu gehen, denn die dicke Augenbinde hat ihm seinen Orientierungssinn völlig geraubt. Doch er hat eine erfahrene Begleiterin. Petra Schneider packt ihren weißen Stock aus und führt Enes geschickt durch das Klassenzimmer. Egal welches Hindernis Schneider in den Weg kommt, sie erkennt es sofort und bewahrt Enes vor einem Zusammenstoß.
Die 32-Jährige aus Weinstadt-Beutelsbach ist von Geburt an blind. "Können Sie sich Menschen überhaupt vorstellen?", fragt sie ein anderer Junge. Schneider überlegt kurz und antwortet dann selbstsicher: "Ich weiß nicht, wie Menschen aussehen, aber ich weiß, wie sie sich anfühlen. Es gibt Menschen mit rauen und glatten Händen. Außerdem ist das Gehör für mich enorm wichtig. Ich höre sofort, ob jemand eine sympathische oder unfreundliche Stimme hat. Die Hautfarbe ist mir völlig egal." Bei diesem Satz werden die Siebtklässler der Uhlandschule hellhörig. Jugendliche von neun Nationen sind im Klassenzimmer vereint. Aus Portugal, Kroatien, Bosnien, Serbien, Albanien, Russland, der Türkei und sogar aus Äthiopien kommen die 13- bis 15-Jährigen. Nur zwei Schüler stammen aus Deutschland.
"Insgesamt gibt es an unserer Schule 25 bis 30 Nationen. Da sind die Unterschiede und Konfliktpotenziale groß. Deshalb ist es wichtig, dass wir das sozialintegrative Verhalten der Schüler verstärken", schildert Klassenlehrer Joachim Gerhard. Dazu soll der intensive Kontakt mit den blinden Menschen einen wichtigen Beitrag leisten. Dr. Uschi Traub, Leiterin des Fachbereichs für Gesundheitsförderung und Prävention beim Landratsamt, suchte eine Schulklasse, mit der sie im Rahmen der bundesweiten "Woche des Sehens" ein gemeinsames Projekt umsetzen konnte. Lehrer Gerhard griff auf diese Offerte gerne zurück.
Gemeinsam mit seinen Schülern holte er zunächst die fünf Mitglieder des Esslinger Vereins "Aussicht" am Ludwigsburger Bahnhof ab. Der Verein um die Vorsitzende Barbara Antonin hat das Ziel, blinde Menschen wieder mehr in die Gesellschaft zu integrieren. Die Sehenden sollen ihre Scheu vor den Blinden verlieren und den Kontakt zu ihnen suchen.
Auch bei den Ludwigsburger Jugendlichen mussten zunächst Hemmschwellen abgebaut werden. Doch im Laufe des Fußmarsches zur Schule wurden diese immer weniger, und die Schüler führten ihre sehbehinderten Besucher schon bald umsichtig durch den dichten Stadtverkehr. Im Klassenraum angekommen, ging die Erkundungsreise in die Welt der Blinden weiter.
Ganz verloren gefühlt
Die Jugendlichen lernten, dass das B in der Blindenschrift aus zwei direkt untereinander liegenden Punkten besteht, dass es eigene Schreibmaschinen und Computerarbeitsplätze für Blinde gibt sowie sprechende Thermometer und Küchenwaagen. Sogar einen Apparat, mit dem sich die Farben der Kleidung identifizieren lassen, nahmen die Schüler genau unter die Lupe. Am eindrucksvollsten waren aber die Übungen mit der Augenbinde oder einer Brille, welche eine massive Sehbehinderung simuliert. "Unter der Augenbinde ist es stockdunkel. Plötzlich fühle ich mich ganz allein und verloren. Alles Bekannte ist fremd für mich", beschreibt Enes seine Eindrücke. Diese kann er am 9. Oktober noch verstärken, dann nämlich werden die Schüler in einem Ludwigsburger Restaurant an einem Mittagessen im Dunkeln teilnehmen. "Ich hoffe, dass die Kinder danach ihre Augen und Herzen für den Dialog mit den sehbehinderten Menschen öffnen", wünschte sich Uschi Traub.
Autor: Michaela Glemser - Bietigheimer Zeitung